Luis Stitzinger tot: Nachruf auf den Allgäuer Höhenbergsteiger

Nachruf auf Luis Stitzinger

Ende Mai wollte der deutsche Höhenbergsteiger Luis Stitzinger den 8586 Meter hohen Kangchendzönga ohne Sauerstoff besteigen und mit Ski abfahren. Beim letzten Funkspruch befand er sich auf rund 8300 Meter Höhe, anschließend gab es keine Signale mehr von ihm. Ein Suchteam konnte schließlich nur noch den toten Körper finden.

Ein Nachruf von seinem Freund und Bergsteiger-Chefredakteur Michael Ruhland.
 
Waren immer ein gutes Team: Luis Stitzinger mit seiner Frau Alix von Melle © Alix von Melle
Waren immer ein gutes Team: Luis Stitzinger mit seiner Frau Alix von Melle
Wir waren nie gemeinsam in den hohen Bergen. Und doch wusste ich bald, nachdem wir uns vor zehn Jahren kennengelernt hatten, dass ich Luis Stitzinger mein bedingungsloses Vertrauen schenken würde. Luis war nicht nur ein verdammt guter Bergsteiger. Er war auch absolut zuverlässig, besonnen, gelassen. Und er war sich selbst treu geblieben, hat sich nicht anstecken lassen von der zunehmenden Aufgeregtheit der Szene. Dabei hätte er genügend alpinistischen Stoff gehabt zum Posten und Prahlen. Er blieb bescheiden, wenn andere Alpinisten ihre Projekte schon im Vorhinein als Weltrekordversuche anpriesen und aus den Basislagern der Weltberge live und in Echtzeit Großes ankündigten.

Im Gegensatz zu den Ankündigern war Luis ein Macher und verhalf auch anderen zu höchsten Glücksmomenten, etwa im vergangenen Jahr, als er den 68-jährigen Briten Graham Keene auf den Mount Everest führte - als Bergführer im Rahmen einer kommerziellen Expedition. Oder bei der Erstbesteigung des 7129 Meter hohen Kokodak Dome in China, die Luis als Expeditionsleiter 2014 verwirklichen konnte. Auch hier rühmte er den Gemeinschaftserfolg des Teams und reklamierte den Gipfel nicht etwa für sich. Mit einem Augenzwinkern gestand er eine kleine patriotische Geste: „Normalerweise bin ich nicht so sehr von Patriotismus getrieben (…). Aber nachdem unsere Österreicher ihre Fahne am Gipfel in den Schnee steckten, konnten wir Bayern denen das Feld nicht allein überlassen…“, sagte er in einem Gespräch. Sein herzhaftes Lachen ob dieser Anekdote ist mir noch im Ohr.

In der Welt der Berge war Luis Stitzinger zuhause.
In der Welt der Berge war Luis Stitzinger zuhause. Foto: Archiv Luis Stitzinger & Alix von Melle

Für Luis waren die Expeditionen wirtschaftlich wichtig, doch war es seine Leidenschaft fürs Höhenbergsteigen, die ihn gemeinsam mit seiner Frau Alix antrieb und immer wieder vor allem in den Himalaya und ins Karakorum führte. Wenn wir uns trafen und das Gespräch auf vergangene und geplante Projekte kam, dann blitzten seine Augen auf. Ich sah darin nicht nur das Feuer, das ein Höhenbergsteiger braucht, um an seine physischen und psychischen Grenzen (und manchmal auch darüber hinaus) gehen zu können. Sein Blick hatte etwas spitzbübisches, schalkhaftes und vermutlich hatte er das geschafft, was nur wenige Erwachsene schaffen: sich das Kindsein im Inneren zu bewahren. Das Faszinierende daran war, dass dieser Wesenszug einer anderen Charaktereigenschaft ganz und gar nicht im Wege stand, nämlich der, seine Schritte im Leben zu reflektieren und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.

Luis und seine Frau Alix von Melle taten das zusammen in einer Weise, der ich höchsten Respekt zolle. „Wir haben bewusst auf ein eigenes Haus oder Kinder verzichtet. Gerade in dem Alter, in dem man sich entscheiden musste, ob ja oder nein, waren wir beide so dick im Höhenbergsteigen drin, dass wir uns öfters besprachen und zu dem Schluss kamen: Wenn wir das so weiter machen wollen, können wir uns ein Eigenheim nicht leisten und Kinderkriegen nicht verantworten. Entweder das Eine oder das Andere, oder einer hätte mit den Expeditionen aufhören müssen. Wir wollten aber unsere Leidenschaft gemeinsam ausleben. Gerade, dass wir das zusammen tun können, macht es ja so erfüllend“, sagte Luis in einem gemeinsamen Bergsteiger-Interview mit Alix im Jahr 2017.

Für Luis war der Berg ein Gesamtkunstwerk, das es zu entdecken galt. Am liebsten wandernd, kletternd, bergsteigend, mit dem Gleitschirm und per Ski. Je nach Möglichkeit in Kombination oder auch einzeln und nacheinander. „Ich verstehe die Leute nicht, die nurschnellstmöglich rauf auf den Berg wollen und dann wieder weg. Die Annäherung an den Berg ist für mich die Hälfte des  Abenteuers. Mit dem Heli zum Basislager zu jetten, zwischendurch für einen Erholungsaufenthalt nach Kathmandu zurück und zum Schluss direkt zum Flughafen, das käme für mich nicht in Frage“, sagte er in unserem Gespräch.

In den Bergen und privat ein gutes Team: Luis Stitzinger mit seiner Ehefrau Alix von Melle.
In den Bergen und privat ein gutes Team: Luis Stitzinger mit seiner Ehefrau Alix von Melle. Foto: Archiv Luis Stitzinger & Alix von Melle

Die beiden zu erleben war eine Freude. Denn sie waren nicht nur ein großartiges Team - sie standen gemeinsam auf sieben Achttausendern - sie konnten sich auch Freiräume zugestehen, dem anderen ein eigenes Leben im gemeinsamen ermöglichen. Luis’ Spezialität waren die Skiabfahrten von den hohen Bergen. Er war als gebürtiger Allgäuer praktisch mit den Skiern auf die Welt gekommen, der Vater Bergführer, so dass Luis seine Passion über die Jahre zur Perfektion brachte. Alix stand ihm hierbei nie im Wege, auch wenn es für sie nicht einfach war, ihn an den Achttausendern im unbekannten Gelände zu wissen und auf die Nachricht aus dem Basislager zu warten, dass alles gut gegangen war. Als erstem Alpinisten gelang ihm die Abfahrt über die zentrale Diamirflanke am Nanga Parbat. Insgesamt fuhr Luis von sieben 8000-ern mit den Ski ab, die er freilich zuvor selbst hochgetragen hatte, ohne dabei zusätzlichen Flaschensauerstoff zu benutzen. Am K 2 fuhr er im Jahr 2011 vom skitechnisch höchstmöglichen Punkt, dem Col auf 7850 Metern, bis an den Wandfuß herunter.

Die Ski hatte Luis im Mai auch am Kangchendzönga (8586 m) mit am Rucksack, dem dritthöchsten Berg der Welt und seinem zehnten Achttausender. Er hatte sie bereits im Einsatz, als er beim ersten Gipfelversuch am 18. Mai gemeinsam mit anderen Bergsteigern in eine falsche Rinne gelangt war und die Besteigung abbrechen musste. Luis fuhr nach Alix’ Angaben, mit der er regelmäßig in Kontakt stand, fast die gesamte Strecke per Ski vom Lager 4 bis ins Basislager ab und berichtete von unproblematischen Schneeverhältnissen. Eine Woche später startete er einen erneuten Besteigungsversuch, erreichte am 25. Mai spätnachmittags auch den Gipfel, von dem er aus, soweit möglich, per Ski zum Lager 4 auf 7600 Meter abfahren wollte. Dort kam er bekanntlich nie an. Der Sherpa-Suchtrupp fand Luis’ Leichnam Tage später auf etwa 8400 Metern im Schnee liegend.

„Viele Menschen versuchen, im Alltag alles im Griff zu haben. Im Leben kannst Du aber nicht alles im Griff haben. Manches passiert einfach, und das muss man dann so hinnehmen“, sagte Luis einst zu mir. Er meinte das allgemein, aber natürlich auch auf die Berge bezogen. Luis traf seine Entscheidungen beim Bergsteigen immer mit größtmöglicher Präzision. Was auch immer oben am Kantsch passiert ist, Luis war in seinem Element. Er hat für die Berge gelebt und er hätte es verdient gehabt, seine Leidenschaft bis ins hohe Alter auszuleben. Zu meiner Hochzeit haben Alix und Luis uns eine gemeinsame Tour in den Alpen geschenkt. Wir hatten uns für den Nordgrat des Castor in den Walliser Alpen entschieden. Es wäre sicher eine unvergessliche Tour geworden, so wie Du, Luis, unvergessen bleiben wirst.

Nach der Todesnachricht schrieb ich einem Freund, dass Du ein Herz wie ein Bergwerk hattest. Die Metapher fiel mir spontan ein, sie stammt aus einem Song von Rainhard Fendrich. Luis, Du hattest ein unglaublich starkes Herz, im physischen wie auch im übertragenen Sinne. Nun hat es aufgehört zu schlagen. Für mich, für uns wird es aber in der Erinnerung weiter pulsieren.

Michael Ruhland
Michael Ruhland
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 08/2024. Jetzt abonnieren!